Die Geschichte der Neutralität

Ich schreibe diesen Artikel in der Schweiz, in einem Land, das vielleicht mehr als jedes andere versucht hat, die Neutralität zu einem Teil seiner nationalen Identität zu machen. Die Schweizer verkünden lautstark ihre Neutralität als grundlegender Teil einer Erzählung von moralischer Überlegenheit. Sie verweisen auf die Neutralität, als Beweis für ihre Weltoffenheit und Aufgeschlossenheit. Sie ist zu einem Grundpfeiler der schweizerischen Außenpolitik geworden, zu einem Beweis für die grundsätzliche Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit der Schweizer*innen. Die Neutralität wurde sogar mit der Topografie in Verbindung gebracht, mit dem "zuverlässigen und starken Bergvolk", das sich in seiner isolierten Festung sicher fühlt und in der Tat über allem steht. Sie hat das Wachstum von Aktivitäten erleichtert, von dem  Bankensektor bis hin zur Ansiedlung internationaler Organisationen wie dem Völkerbund, dem Roten Kreuz (dessen Flagge eine Umkehrung der Schweizer Flagge ist) und sogar einer Forschungseinrichtung für Teilchenphysik (CERN). Sie hat Investitionen angezogen und Arbeitsplätze geschaffen; diese Quelle der "Wirtschaft" könnte jedoch bedroht sein.

 

Eine kurze Geschichte der Schweizer Neutralität

Die Wissenschaft ist sich einig, dass die schweize Neutralität wahrscheinlich zum ersten mal im Westfälischen Frieden (1648) formell festgelegt wurde, wahrscheinlich als Ergebnis der Vereinbarung, dass keine fremden Armeen Schweizer Territorium durchqueren durften. Im späten neunzehnten Jahrhundert entstanden zwei Mythen über das Alter und den Ursprung der Doktrin. Die Erste behauptete, sie sei mindestens 130 Jahre älter als Westfalen, die Zweite, sie sei eine unabhängige schweizer Initiative. Diese Mythen stärkten die nationale Identität der Schweiz in einer Zeit, in der sich i. ganz Europa Nationalstaaten bildeten. 

Ein anderes Thema ist der Zusammenhang zwischen der Neutralität und der Unvoreingenommenheit, eine moralisch wünschenswerte Haltung, die auch den Multikulturalismus in der Schweiz fördert. Die "Privatisierung" der Religion im neunzehnten Jahrhundert und die Säkularisierung im zwanzigsten Jahrhundert haben dazu geführt, dass die modernen Nationalstaaten eine größere Rolle bei der Festlegung normativer Standards für ethisches Verhalten übernommen haben. In der Schweiz wurde die Neutralität von der Bundesregierung, die die alleinige Verantwortung für die Außenpolitik trägt, als Zeichen der moralischen Führerschaft bei der Schaffung von sozialem Zusammenhalt aufgegriffen. Die Kantone, aus denen sich die Schweiz zusammensetzt, und nicht der Bund, sind in erster Linie für diese Aufgabe zuständig.

 

Wechselnde Perspektiven

Die Trennung zwischen Außen- und Innenpolitik hat sich mit Aufkommen der modernen globalen technologischen Kommunikation und dem starken Anstieg der Einwanderung aufgelöst. Die Technik der selektiven Erkennen von fremder Regime, wie sie beispielsweise im Zweiten Weltkrieg angewandt wurde, ist unhaltbar geworden. So haben moderne detaillierte Satellitenbilder der uigurischen Konzentrationslager in China die in den 1940er Jahren von der Schweiz und vielen anderen Ländern angewandte Praxis des Ignorierens oder Leugnens des Holocausts unmöglich gemacht. Ein Besuch des Schweizer Bundespräsidenten in China im Jahr 2019, der unter dem Deckmantel der allgemeinen Stärkung der Beziehungen stattfand, wurde daher stark kritisiert.

Die Geschichte der Reparationszahlungen zur Entschädigung für den falschen Umgang mit dem jüdischen Gold in den 1940er Jahren zeigt, welche Folgen die moderne Wissensvermittlung hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde jahrzehntelang nur zurückhaltend anerkannt, dass die Neutralität eine Rolle bei der Erleichterung des Nazi-Regimes spielte, was zum Teil auf die Angst zurückzuführen war, Forderungen nach hohen Entschädigungszahlungen von den Schweizer Banken auszulösen. Im Jahr 1962 führte eine unverifizierte Prüfung zur Identifizierung unrechtmäßig zurückgehaltener jüdischer Vermögenswerte zu Zahlungen in Höhe von nur 35 Mio. CHF (Stand 1995). Der anschließende weltweite Aufschrei, der vor allem von externen Aktivisten ausgelöst wurde, führte schließlich zu Entschädigungen in der Höhe von 2,1 Milliarden US-Dollar.

Die Neutralitätsdebatte der 1990er Jahre wurde fast ausschließlich von Fragen der finanziellen Rückerstattung bestimmt. Abgesehen von der Frage der Gerechtigkeit sollte die Rückerstattung wohl als Teil einer umfassenderen Diskussion über die kollektive Verantwortung einer angeblich christlichen Bevölkerung für den Holocaust betrachtet werden. Die katholische Kirche hat sich seither am deutlichsten für ihre Komplizenschaft mit dem Nazi-Regime entschuldigt. Der Wandel des Diskurses von der spezifischen Entschuldigung für eine Opfergruppe hin zur Anerkennung der moralischen Implikationen der Neutralität erfolgte jedoch nur zögerlich und in jüngster Zeit. Die erste Entschuldigung, die sich speziell an die Juden als Opfer richtete, erfolgte 1998, aber erst 2020 wurde ein Dokument herausgegeben, in dem im weiteren Sinne anerkannt wurde, dass "die Bischöfe, da sie sich dem Krieg nicht deutlich entgegenstellten und die meisten von ihnen den Durchhaltewillen des [deutschen Volkes] unterstützten, sich am Krieg mitschuldig machten".

 

Die Befürworter der Neutralität berufen sich oft auf eine vage Vorstellung von moralischer Überlegenheit: "Wir sind unbefleckt von dem schmutzigen Geschäft des Konflikts, der Gewalt und des Krieges". Die obigen Beispiele zeigen, wie schwach diese Logik ist. Man kann sogar noch weiter gehen, denn die Neutralität kann im schlimmsten Fall ununterscheidbar sein von Schwäche, Unentschlossenheit und sogar offener Feigheit. Die Folgen können vorteilhaft oder schädlich sein, aber es ist schwierig, das Argument aufrechtzuerhalten, dass Neutralität grundsätzlich tugendhaft ist.

 

Moderne Neutralität umschrieben

Die Schweiz präsentiert sich nach wie vor als die große neutrale Vermittlerin, die über der Hitze des Konflikts und der Debatte steht. Die Unparteilichkeit der Schweiz hält jedoch einer genaueren Prüfung immer weniger stand. So hat https://www.justiceinfo.net/en/, eine privat finanzierte NGO in Lausanne, die sich der Aufdeckung von globalem Unrecht und Kriegsverbrechen verschrieben hat, nachgewiesen, dass das Schweizer Strafverfahren gegen einen ehemaligen liberianischen Diktator im Vergleich zum finnischen Kriegsverbrecherprozess gegen das ehemalige Regime in Sierra Leone schlecht abschneidet. Hierin liegt das moderne Dilemma der Neutralität. Wenn der Satz "Kein Mensch ist eine Insel" zutrifft, dann hat sich die Möglichkeit, dass Nationalstaaten isoliert bleiben, mit dem Aufkommen der modernen Kommunikation stark verringert. 

Das Informationszeitalter hat das Ausmaß vieler illegaler Aktivitäten aufgedeckt, manchmal zum Nachteil von Ländern, die behaupten sie seien unparteiisch. Der Antiterrorkrieg führte zu erschöpfenden Bemühungen, die Finanzierung des Terrorismus aufzuspüren. Die USA haben neue Rückverfolgungstechnologien zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung und aller finanziellen Aktivitäten im Zusammenhang mit kriminellen Unternehmen eingesetzt. Das Schweizer Bankgeheimnis und ähnliche Maßnahmen in vielen Offshore-Zentren sind unter aggressiven amerikanischen Beschuss geraten. Es ist nicht mehr möglich, ein Schweizer Bankkonto zu besitzen, das nur aus Nummern besteht. Das Gegenargument, dass "wir als neutrales Land die Herkunft von Geldern nicht hinterfragen", ist nun unannehmbar. Die Schweiz ist gezwungen, eine Politik der vollständigen Offenlegung zu verfolgen und Einleger zu benennen, deren Gelder offenbar aus Aktivitäten oder Nationen stammen, die von anderen westlichen Demokratien als moralisch falsch betrachtet werden. Anders ausgedrückt: Die Neutralität erlaubt es nicht mehr, ein Urteil auszusetzen. 

Innerhalb des Landes haben sich die etablierten Politiker, die versuchen, den zunehmenden Populismus einzudämmen, die Neutralitätstradition der Schweiz in Verbindung mit einer Politik der kulturellen Toleranz zunutze gemacht. Sie versuchen, einer der Ironien der modernen Schweiz zu begegnen. In einem wohlhabenden Land, das sich als Hort des Friedens präsentiert, hat der Populismus in Form der rechtsextremen Schweizerischen Volkspartei ("SVP") mehr Erfolg als in jedem anderen westeuropäischen Land. Sie ist zu einer bedeutenden politischen Partei und Teil des Bundesrats geworden und hat erfolgreich Volksabstimmungen erzwungen, in denen eine Reihe von spalterischen Maßnahmen wie das Verbot des Baus von Minaretten und des Tragens von Burkas angenommen wurden.

 

Neutralität kann sowohl dem Ansehen im Ausland als auch dem sozialen Zusammenhalt im Inland schaden

Die Schweiz ist seit 2002 Vollmitglied der UNO und hat damit die Unvermeidbarkeit eines globalen Engagements anerkannt. Nach heftigen innenpolitischen Debatten hat sie beschlossen, sich um eine nicht-ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat ab 2023 zu bewerben. Problematischerweise wurde dies als Teil der Fortführung des "neutralen internationalen Engagements" dargestellt. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Bilanz der UNO selbst zur Debatte steht. Als ständige Mitglieder des Sicherheitsrats legen China und Russland regelmäßig ihr Veto gegen kritische Anträge ein; allein im Jahr 2020 wurden siebzehn Anträge zur Kritik von Israel verabschiedet, verglichen mit insgesamt sechs für den Rest der Welt. 2019 weigerte sich die Schweiz, mit 36 anderen Ländern zu stimmen, die eine Untersuchung des Mordes an Jamal Khashoggi forderten. 

Ob die Neutralität im Jahr 2021 noch eine realistische politische Option ist, wird in der Schweiz nun erstmals offen infrage gestellt. Die ehemalige Außenministerin Micheline Calmy-Rey veröffentlichte kürzlich ein Buch, in dem sie sich für eine "aktive Neutralität" aussprach. Sie räumt zwar ein, dass die Neutralität "enorme Herausforderungen" mit sich bringt, befürwortet sie jedoch, da sie Mediation und gewaltfreie Interventionen ermöglicht. Sie scheint "Neutralität" als das Streben nach pragmatischem Engagement im Weltgeschehen zu definieren, eine Strategie der Handlung, die von moralischen Urteilen unabhängig ist.  Ob dies in der modernen, vernetzten Welt machbar ist, ist unsicher. Es wird davon ausgegangen, dass jede Nation, die als Schiedsrichter auftritt, hinreichende Kenntnisse über die Aktivitäten aller Parteien hat, unabhängig davon, ob diese offen zugegeben werden oder nicht. Darüber hinaus ist es in einem Land, in dem, wie in weiten Teilen Europas, die jüngsten Einwanderer fast 7 % der Bevölkerung ausmachen, schwierig, innenpolitische Ansichten von der Außenpolitik zu trennen. 

 

Zusammenfassung

Der Grundsatz der Neutralität wird nicht verschwinden.  Solange es Kriege und Konflikte gibt, wird es einen Bedarf an Kommunikationskanälen zwischen Gegnern geben, oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Umstände ihrer Anwendung und das Verständnis seiner Folgen ändern sich jedoch. In einer modernen Welt, in der es nicht mehr möglich ist, Völkermorden und und Kriegsverbrechen in der Welt zu ignorieren, kann die Neutralität nicht mehr als Synonym für Objektivität und Humanität dargestellt werden. In der Wirklichkeit ist sie eine politische Maßnahme, wie jede andere.

Previous
Previous

The History of War

Next
Next

The History of Neutrality